Vier Kinderbücher lesen, in Kleingruppen analysieren und diskutieren. Das war die Aufgabe der 4.-Klässlerinnnen und 4.-Klässler der Schule Rothenburg (LU), die am Forschungsprojekt "SKiLL" der PHBern teilgenommen haben. Was wissenschaftlich und etwas trocken klingen mag, zeigt jedoch grosse Wirkung.
Vorher – nachher
Es gibt ein klares "Vorher" und "Nachher". Zu Beginn des Schuljahres konzentrieren sich die zehnjährigen Schülerinnen und Schüler wie gewohnt auf das Textverständnis bei der Lektüre der Kinderbücher. Das ändert sich innerhalb weniger Wochen. Beim zweiten Buch beginnen die Kinder zögernd, aber immer öfter das Wort zu ergreifen, auch ohne explizite Aufforderung durch die Lehrpersonen. Sie analysieren die Geschichten, identifizieren die Konflikte und Widersprüche, befürworten oder verurteilen eine Verhaltensweise, indem sie eigene Argumente finden. Die Diskussionen in Kleingruppen fördern nicht nur die Sprachkompetenz oder das Textverständnis, sondern auch das Selbstvertrauen der Kinder. Wo sich zum Beispiel introvertierte Kinder beim Unterricht in der ganzen Klasse eher zurückhalten, haben sie in Kleingruppen weniger Hemmungen. "Am Anfang war ich nervös, jetzt weiss ich, wie es geht, und traue mir mehr zu", verrät Lenny. Neal fügt hinzu: "Wir haben gemerkt, dass es gar nicht so schlimm ist, wenn wir etwas anderes denken oder sagen." Davide hakt nach: "Wenn jemand eine andere Meinung hat, wird das Gespräch interessant." Die Schülerinnen und Schüler lernen ausserdem, offene Fragen zu stellen und ihre Antworten zu begründen. Leandra bestätigt: "Ich habe gemerkt, dass ich einen anderen Blickwinkel einbringen kann und die anderen damit überzeugen konnte."
Die Lektüre regt zum Nachdenken über das soziale Zusammenleben in der Klasse an, denn Themen wie Mobbing, Diskriminierung oder andere Konflikte werden in den Geschichten angesprochen. Dieser Prozess geschieht nicht ganz von allein, sondern in Begleitung der Lehrperson und des Forschungsteams, und ist mit Vorbereitung verbunden.
Aufwand lohnt sich
Das Team rund um Forschungsleiter Luciano Gasser und die Interventionsverantwortliche Yvonne Dammert stellte reichlich Begleitmaterial zur Verfügung. Nebst den vier Kinderbüchern gab es Videos, Poster, Lesetagebücher oder Rätsel, Anleitungen für Fragestellungen usw. An der Schule in Rothenburg nahmen drei Klassen und mehrere Lehrpersonen am Projekt teil. Das Projekt war laut Klassenlehrerin Sibylle Clerc ziemlich aufwendig, vor allem am Anfang. "Nach dem ersten Durchgang haben wir jedoch gesehen, dass es machbar ist, weil das Vorgehen immer gleich war." Es habe sich gelohnt, das Projekt bis zum Schluss durchzuziehen: "Der Unterschied von der ersten zur letzten Diskussionsrunde war frappant! Am Schluss waren wir alle stolz, auch die Kinder, weil wir sehen konnten, wie alle Fortschritte gemacht hatten."
Erfolgserlebnisse
Vor und nach Abschluss des Unterrichtsprojektes hat das Forschungsteam Erhebungen in Schulklassen in der ganzen Deutschschweiz gemacht. Dabei wurden mithilfe von Aufgaben auf Tablets Veränderungen in sozialen und sprachlichen Kompetenzen gemessen. Beispielsweise lösten die Kinder eine Textverständnisaufgabe, oder es ging um ihre Fähigkeit, die Sichtweise von anderen einzunehmen. Im Winterhalbjahr 2023/2024 werden die erhobenen Daten der Begleitstudie ausgewertet. Erste Resultate sind im Frühling 2024 zu erwarten. Auch die Projektmitarbeitenden, die die Schule Rothenburg begleitet haben, berichten von einigen Erfolgserlebnissen: "Es war beeindruckend zu beobachten, wie sich im Laufe des Schuljahres das Gesprächsmuster in den Kleingruppen verändert hat", berichtet die Interventionsverantwortliche Yvonne Dammert. "Anfangs standen die Lehrperson und ihre Fragen im Zentrum, doch allmählich übernahmen die Schülerinnen und Schüler mehr Verantwortung über den Verlauf und den Inhalt des Gesprächs. Es entstand eine völlig neue Dynamik", erzählt sie weiter. Auch die Zusammenarbeit mit den beteiligten Lehrpersonen wie auch ihr Engagement lobten die Projektmitarbeitenden sehr. "Eine solch umfassende Intervention erfordert von den Lehrpersonen eine hohe Bereitschaft, Neues zu wagen, und auch einen nicht zu unterschätzenden zeitlichen Mehraufwand", stellt Yvonne Dammert fest.
Pro Buch wurden die Diskussionsrunden gefilmt und vom Forschungsteam gemeinsam mit den Lehrpersonen analysiert. Wertvoll für die Lehrpersonen waren laut Sibylle Clerc vor allem die Coachings durch die Projektmitarbeitenden. "Wir haben die Aufzeichnungen gemeinsam analysiert. So lernten wir, wie wir auf den Gesprächsverlauf unauffällig Einfluss nehmen und die Kinder ermutigen können, selbst den Dialog am Laufen zu halten."
Forschungsprojekt SKiLL
Das Forschungsprojekt "SKiLL" ist ein innovatives Unterrichtsprojekt, welches Kleingruppendiskussionen über Kinderliteratur in den Mittelpunkt stellt. Das Programm unterstützt Lehrpersonen darin, soziale und sprachliche Kompetenzen bei Kindern der 4. und 5. Klasse zu fördern. Im Zentrum des Förderprogramms stehen Kleingruppengespräche über literarisch hochwertige Kinderbücher zu Themen wie Fairness, sozialer Zusammenhalt oder Zivilcourage. Das Ziel ist es, die Kinder zu befähigen, ihre eigenen Standpunkte zu vertreten und über Sachverhalte zu reflektieren. SKiLL wurde in einem ersten Projekt entwickelt und pilotiert.
Aktuell wird die Wirksamkeit des Programms auf das Textverstehen und soziale Kompetenzen in einer umfangreichen Studie mit 41 Schulklassen geprüft. Die Studien werden von den Stiftungen Mercator Schweiz, Education21 und vom Schweizerischen Nationalfonds finanziert. Der Projektschluss ist im Februar 2025 geplant.
Sibylle Clerc und ihre Kollegin Gabriela Kammermann werden viele Elemente dieses Projektes weiterführen und auf das nächste Schuljahr anwenden. "Wir haben jetzt die Grundlagen, das geht nicht verloren. Damit werden wir weiterarbeiten, denn wir haben sehr profitiert von dieser Erfahrung." Auch für die Klassen sei dieser Impuls wertvoll, meint die engagierte Lehrerin. Man habe im Klassenrat bereits Veränderungen gespürt, weil mehr argumentiert und zugehört werde. So oder so – sie empfiehlt das Vorgehen für soziale und sprachliche Kompetenzen, wie sie es mit SKiLL gelernt hat, wärmstens weiter.
SKiLL Weiterbildung
Möchten auch Sie die sozialen und sprachlichen Kompetenzen Ihrer Schülerinnen und Schüler durch Kleingruppendiskussionen über Kinderbücher fördern? Dann lassen Sie sich jetzt für die geplante SKiLL-Weiterbildung im Schuljahr 2024/25 vormerken.
Bildung schafft Chancen – dafür setzen sich die Forschenden der PHBern ein. Das Institut für Forschung, Entwicklung und Evaluation der PHBern versteht hochwertige Bildung als wichtigste individuelle und gesellschaftliche Ressource. Mit exzellenter Forschung, gezielter Nachwuchsförderung und einem offenen Zugang zu wissenschaftlichen Erkenntnissen leisten die Forschenden der PHBern einen entscheidenden Beitrag für eine chancengerechte und inklusive Bildung. |