Anerkennung – eine pädagogische Herausforderung

Wie Kitt sorgt Anerkennung dafür, dass pädagogische Beziehungen funktionieren. Ein Forschungsprojekt der PHBern untersucht, wie sich Anerkennungspraktiken im Unterricht vollziehen. Andrea Plüss, Projektleiterin und Philosophin, erläutert im Interview, was eine gelingende Anerkennungspraxis ausmacht und weshalb auch Lehrpersonen nicht ohne Anerkennung auskommen.
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Lehrperson iteragiert mit Schülerinnen und Schülern.

Soziale Anerkennung sollte angemessen, reflektiert und echt sein – nicht immer eine einfache Angelegenheit. (Symbolbild)

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Andrea Plüss, was bedeutet Anerkennung und weshalb ist sie für die pädagogische Beziehungsgestaltung wichtig?
Andrea Plüss:
Ethisch betrachtet bedeutet Anerkennung, dass Menschen sich wechselseitig in bestimmten Bedürfnissen, Rechten und individuellen Leistungen positiv bestätigen sollen. Wer anerkannt wird, fühlt sich respektiert und in die Gesellschaft integriert. Anerkennung ist zudem ein menschliches Bedürfnis, das sich natürlich auch in der Schule bemerkbar macht. Lernende wollen wahr- und ernstgenommen und in ihrer Persönlichkeit anerkannt werden. Aber auch Lehrpersonen möchten wertgeschätzt werden. Anerkennung trägt viel zur Stärkung pädagogischer Beziehungen bei. Und gute Beziehungen wiederum sind eine wichtige Grundlage für erfolgreiche Lehr- und Lernprozesse.

Gehört es nicht zur Rolle der Lehrperson, auch ohne Anerkennung auszukommen?
Lehrpersonen agieren zwar in einer Rolle, gleichzeitig sind sie aber auch Menschen, die bestätigt werden wollen. Ganz ohne Anerkennung geht es wohl nicht. Lehrpersonen sollten auch als verletzliche Wesen wahrgenommen werden. Das heisst aber nicht, dass man sie nicht kritisieren darf. Konstruktive Kritik muss immer möglich sein.

Was macht eine gelingende Anerkennungspraxis aus?
Anerkennung sollte angemessen, reflektiert und echt sein und sollte vom Gegenüber auch entsprechend wahrgenommen werden. Nehmen wir zum Beispiel eine Schülerin, die eine Aufgabe nicht lösen kann. Sie zerknüllt ihr Papier und der Lehrer eilt mit einem "Ich helfe dir" herbei. Die Schülerin wendet sich ab. Möchte sie überhaupt, dass ihr geholfen wird? Ein weiteres Beispiel: Ein Schüler löst an der Tafel eine einfache Mathematikaufgabe und die Lehrerin lobt ihn sehr. Darauf der Schüler: "Ich kann aber noch viel schwierigere Aufgaben lösen." Anerkennung kann fördern und bestätigen, aber auch binden und begrenzen. Wer also anerkennt im Unterricht wen, vor wem, wie und wofür? Eine gelingende Anerkennungspraxis herzustellen ist alles andere als einfach und durchaus als pädagogische Herausforderung zu verstehen.

Welche Rolle spielt Anerkennung bei der Persönlichkeitsentwicklung von Kindern und Jugendlichen?
Kinder und Jugendliche entwickeln sich in Beziehungen und sind auf Anerkennung angewiesen. Der Sozialphilosoph Axel Honneth sagt beispielsweise, dass Anerkennungserfahrungen zum Aufbau einer stabilen Persönlichkeit gehören. Selbstvertrauen, Selbstachtung und Selbstwertgefühl entwickeln sich, wenn Menschen geliebt, respektiert und wertgeschätzt werden. Honneths Anerkennungstheorie, die natürlich auf den Schulalltag bezogen werden muss, bietet insofern eine interessante Perspektive, um Anerkennungspraktiken zu untersuchen.

Was kann in einer Klasse passieren, wenn die Anerkennung fehlt?
Lernende empören sich beispielsweise, wenn sie sich unfair behandelt oder nicht wertgeschätzt fühlen. Mangelnde Anerkennung kann sich auch negativ auf die Berufszufriedenheit von Lehrpersonen auswirken. Anerkennung ist für den Zusammenhalt in der Klasse wichtig und es stellt sich die Frage, wie es Lehrpersonen und Lernenden gelingt, eine anerkennende Lernatmosphäre zu schaffen, in der gut gelernt und gelebt werden kann. Zur Beantwortung dieser Frage möchten wir mit unserem Forschungsprojekt gerne einen Beitrag leisten.

Mehr zum Forschungsprojekt

Im Forschungsprojekt "Anerkennung in sozialen Interaktionen" untersuchen Andrea Plüss, Alexander Wettstein und Vanessa Prieth Anerkennungspraktiken im Unterricht. Das Forschungsteam videografiert dafür den Unterricht in acht Schulklassen auf der Sekundarstufe I und führt Interviews mit Lehrpersonen und Gruppendiskussionen mit Lernenden. Aus der Analyse der Anerkennungspraktiken werden Erkenntnisse und praktische Hinweise abgeleitet, die Lehrpersonen für anerkennungsrelevante Aspekte sozialer Interaktionen sensibilisieren können. Das Projekt läuft im Schwerpunktprogramm Soziale Interaktion in pädagogischen Settings.

Titel Anerkennung in sozialen Interaktionen
Team Dr. Andrea Plüss
Vanessa Prieth
Prof. Dr. Alexander Wettstein
Laufzeit 1. August 2020 bis 31. Juli 2023
Link Projektwebseite

Passende Veranstaltung:

Den Menschen hin zur starken Persönlichkeit unterstützen. Wie geht das? Dieser Frage geht die Veranstaltungsreihe "Schule braucht Persönlichkeit" unter Beteiligung der PHBern nach. Die nächste Veranstaltung findet am Donnerstag, 5. August 2021 statt, unter anderem mit Pedro Lenz und Bruno Bieri. Thema: "Wie kann die Schule zum sozialen Frieden beitragen?"