Bildungsgerechtigkeit, Chancengleichheit, Chancengerechtigkeit?

Die drei Begriffe sind sowohl bildungspolitisch wie auch bildungstheoretisch umstritten. 

Die fortschreitende digitale Transformation hat positive und nachteilige Auswirkungen auf die Gesellschaft und insbesondere auf das Schulumfeld. Eine der Aufgaben der PHBern ist es, sowohl die Chancen als auch die Risiken der Digitalisierung zu beobachten und sich im Rahmen der Zusammenarbeit mit den Schulen und im Hochschulumfeld aktiv für den Zugang aller zur Bildung einzusetzen. Es geht in der momentanen Situation zunächst darum, auf mangelnde Zugänglichkeit und Hürden zu achten, die informell und strukturell sein können, dabei häufig unsichtbar bleiben und beispielsweise die Nutzung von digitalen Lernangeboten für den individuellen Lernfortschritt erschweren. Ein weiteres Ziel wäre das Erweitern der individuellen Potenziale, gerade im Zusammenhang mit den Möglichkeiten des digitalen Lernens aller Schülerinnen und Schüler. 

Im Kontext von Fragen gleicher und/oder gerechter Zugänge zu Bildung existieren nicht nur in Bezug auf Digitalisierung, sondern generell kontroverse Meinungen und unterschiedliche Begriffsverständnisse. Es folgt eine Klärung der aktuell verwendeten Begriffe sowie die Darlegung eines möglichen Ansatzes. 

Bildungsgerechtigkeit  

“Die PHBern setzt sich für Bildungsgerechtigkeit ein sowie für Partizipation von benachteiligten Menschen. Sie stützt sich dabei auf das Recht aller Menschen auf Bildung in einem nichtdiskriminierenden und auf Chancengleichheit ausgerichteten Bildungssystem.” (PHBern 2019). 

Gerechtigkeit gilt als eines der Grundprinzipien des demokratischen Gemeinwesens, hierin auch von Bildungsinstitutionen. Im Anschluss an John Rawls’ Werk “A theory of justice” (1971) liegt “Gerechtigkeit in der Schaffung gleicher Lebensaussichten für alle Menschen” (Rawls zitiert nach Dietrich, Heinrich, Thieme 2013, S. 15). Dieses Verständnis – das konkreter ausformuliert werden müsste – orientiert sich an der Idee der Gleichheit. Daneben bestehen aber auch andere Vorstellungen von Gerechtigkeit.  

In wissenschaftlichen Diskursen wird “Bildungsgerechtigkeit” deshalb als ‚fuzzy concept‘ bezeichnet (vgl. ebd. 2013, S. 12ff) – was genau damit gemeint ist, bleibt demnach unscharf und mehrdeutig. Historisch betrachtet sind Gerechtigkeitsvorstellungen politischen Deutungskämpfen unterworfen, die bis heute Bildungsverständnisse und damit die Erwartungen an die Institution Schule beeinflussen. 

Es besteht also sowohl im pädagogischen als auch im bildungspolitischen Feld ein Bedarf an Auseinandersetzung mit der Kategorie “Bildungsgerechtigkeit”. Kritisch betrachtet handelt es sich um eine Art Leerformel. Dennoch ist sie als Orientierungspunkt für Bildungssysteme in demokratischen, sich als offen verstehenden Gesellschaften zu sehen, wie beispielsweise Prenzel et al. (2007) formulieren: «Ein Ziel von Bildungseinrichtungen wie Schulen richtet sich darauf, Kindern und Jugendlichen unabhängig von ihrer sozialen und ethnischen Herkunft gleiche und gerechte Chancen für den Besuch von Bildungseinrichtungen und für die Entwicklung von Kompetenzen zu bieten» (ebd. zit. nach Dietrich et al 2013, S 18). 

Chancengleichheit versus Chancengerechtigkeit

Welcher der beiden Begriffe – “Chancengleichheit” oder “Chancengerechtigkeit” ist angesichts der Forderung nach Bildungsgerechtigkeit zielführend? 

Chancengleichheit ist spätestens seit den 1960er Jahren ein grundlegendes und weithin akzeptiertes Prinzip für die Bildungspolitik und die Gestaltung von Bildungssystemen (vgl. auch SWR Becker 2018, S. 34; vgl. auch LP 21). Bezüglich Ausformulierung und Gehalt dieses Prinzips bestehen ebenfalls Differenzen. Gemeinhin wird von “gleichem Recht auf Entfaltung ungleicher Anlagen” (eingeschlossen die soziale Vererbung von Bildung) gesprochen. Das Bildungssystem verpflichtet sich, gleiche Chancen zur Erreichung von Bildungszielen zu schaffen und dabei die unterschiedlichen Voraussetzungen der Lernenden zu berücksichtigen. Wer Ungleiche gleichbehandelt, kann den Anspruch auf Chancengleichheit demnach nicht einlösen, es bedarf vielmehr individualisierender Wege der Förderung. Bei Benachteiligungen aufgrund sozio-ökonomischer, natio-ethno-kultureller Herkunft und Geschlecht (Sturm, 2013, S. 64ff.), Körperfunktionen und -strukturen (z.B. “Lese-Rechtschreibe-Schwäche”), Gesundheitszustand (WHO, 2005) des Individuums sowie Wohnort (Hradil, 2005) muss eingegriffen und unterstützt werden, damit Gerechtigkeit ansatzweise hergestellt werden kann. 

Die Bildungsforschung zeigt seit den 1970er Jahren bis heute auf, dass die Bemühungen um die Herstellung “formaler Chancengleichheiten” zwar zu mehr Bildungsgelegenheiten und gestiegener Bildungsbeteiligung geführt haben, nicht jedoch zum Abbau sozialer Ungleichheiten von Bildungschancen (SWR Becker 2018, S. 34). Auch die Befunde aus PISA sowie Berichte der OECD sowie weiterer Studien (vgl. SWR Bildungsbericht 2018) weisen darauf hin, dass es der Schule nicht gelingt, Ungleichheit zu vermindern. Deshalb ist es angemessener, von Chancenungleichheit als von nicht realisierter Chancengleichheit zu sprechen. In diesem Zusammenhang gerät die “sozialen Selektivität” des Schweizer Bildungssystems kritisch in den Fokus.  

“Chancengerechtigkeit” (oder auch “equity”) ist ein Begriff, der in jüngerer Zeit ins Feld gebracht wurde (vgl. Rolff, 2016), ohne jedoch die in Bezug auf Bildungsgerechtigkeit festgestellten Leerstellen zu füllen und die erforderlichen politischen Debatten zu führen. In einem wirtschaftsliberalen Land wie der Schweiz gilt das meritokratische Prinzip: Wer sich anstrengt, begabt ist und gute Leistungen erbringt, wird mit Bildungserfolg belohnt. Dieser Gedanke wird gemeinhin mit “Chancengerechtigkeit” gleichgesetzt (vgl. Müller 2013, in SWR 2018, S. 34).  

Die Kritik am Begriff “Chancengerechtigkeit” ist, dass nicht berücksichtigt wird, dass auch Eigenschaften wie Begabung und Leistungsbereitschaft nicht nur individuelle Eigenschaften sind, sondern je nach Position im sozialen Raum ungleich verteilt sind. Wer in Bezug auf unser Bildungssystem von Chancengerechtigkeit spricht, legitimiert somit, dass Lernende aus einem privilegierten Umfeld bessere Startchancen und damit bessere Bildungschancen haben.  

Werden die beiden Begriffe Gleichheit und Gerechtigkeit nebeneinandergestellt, erweist sich Gleichheit als eine empirische, Gerechtigkeit dagegen als eine normative Kategorie. Gleichheitsaussagen lassen sich empirisch begründen, also aufgrund von Daten aus dem schulischen Feld. Gerechtigkeit hingegen lässt sich nicht quantitativ bestimmen oder messen. Hingegen kann, wer einen normativen Anspruch an Bildungsgerechtigkeit hochhält, mittels empirischer Daten die Verteilung der Chancen sichtbar machen und Ungleichheiten belegen (vgl. Rolff 2016). Der Begriff Chancen – der ebenfalls zu klären wäre – verweist letztlich auf einen Platz in der Gesellschaft, im Arbeitsmarkt. Schule ist demnach nicht unabhängig vom gesellschaftlichen System zu denken

Chancenungleichheiten im Bildungssystem: Diskriminierungskritische und differenzsensible Pädagogik 

Was Gerechtigkeit im Bildungssystem bedeutet, muss gesellschaftlich verhandelt werden. Wissenschaftliche Diskurse und Befunde tragen dazu bei, den Blick auf gesellschaftlich relevante Themen zu lenken: Ob beispielsweise mehrsprachige Kinder ihre Sprachkompetenzen einbringen könnten oder ob diese lediglich als Defizit angesehen werden, weil es eine einzige relevante Bildungssprache gibt. Oder wie viel Zeit Familien in benachteiligten Verhältnissen für Bildungsprozesse aufwenden können und wie die Unterstützung für sie aussehen könnte. Dabei ist es zentral, auf welche Art und Weise Bildungsinhalte an Kinder herangetragen werden, wie Lernaufgaben formuliert und auch verstanden werden.  

Das Ideal der Bildungsgerechtigkeit zielt auf die Schaffung nicht-diskriminierender Bildungsräume und darauf, Schulen zu gestalten, die allen Chancen bieten, ihr Bildungspotenzial zu entfalten. Es gibt verschiedene bildungspolitische Massnahmen und pädagogische Ansätze, die Antworten auf diese Fragen liefern. Auf struktureller Ebene, in der Gestaltung von Bildungssystemen, scheinen sozialraumorientierte, wenig selektive Formen vielversprechend zu sein. Auf der Ebene des pädagogischen Handelns wird mittels der Stärkung pädagogischer Professionalität die Schaffung differenzsensibler und diskriminierungskritischer Lehr- und Lernräume ermöglicht. Ebenso wird in den Ausbildungsgängen der Pädagogischen Hochschule mit entsprechenden didaktischen Konzepten gearbeitet (z.B. differenzierende Unterrichtsplanung, Aufgabenkultur im kompetenzorientierten Unterricht, adaptive Lernbegleitung). Um den gestiegenen Diversitätsanforderungen und zugleich persistenten Ungleichheitsverhältnissen in transnationalisierten Gesellschaften begegnen zu können (vgl. für Deutschland Stiftung Mercator 2017), braucht es Bestrebungen auf allen Ebenen. 

Literatur

  • Dietrich, Fabian; Heinrich, Martin; Thieme, Nina (2013). Bildungsgerechtigkeit jenseits von Chancen-gleichheit. Theoretische und empirische Ergänzungen und Alternativen zu ‚PISA‘ – Zur Einführung in den Band. In: Ebd. (Hrsg.) Bildungsgerechtigkeit jenseits von Chancengleichheit. Theoretische und empirische Ergänzungen und Alternativen zu ‚PISA‘. Wiesbaden: SV Verlag, S. 11-34. 
  • Hradil, Stefan (2005). Soziale Ungleichheit in Deutschland (8. Aufl.). Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften. 
  • PHBern (2019). Grundlagenpapier Heterogenität und Inklusion, internes Papier. 
  • Rolff, Hans-Günter (2016). Ohne klare Begriffe keine klare Sache: Chancengleichheit oder Chancen-gerechtigkeit? In: nds. Die Zeitung der Bildungsgewerkschaft 4-2016, S. 14. 
  • Schweizerischer Wissenschaftsrat (SWR) (2018). Soziale Selektivität. Expertenbericht von Rolf Be-cker und Jürg Schoch im Auftrag des SWR. Bern, Politische Analyse 3 /2018. 
  • Stiftung Mercator (Hrsg.). Angekommen in der Migrationsgesellschaft. Grundlagen der Lehrerbildung auf dem Prüfstand. Essen 2017. 
  • Sturm, Tanja (2013). Lehrbuch Heterogenität in der Schule. München: Ernst Reinhardt. 
  • WHO (2005). Internationale Klassifikation der Funktionsfähigkeit, Behinderung und Gesundheit (Originalausgabe von 2001) 

Kontakt

Arbeitsgruppe "Digitalisierung und Chancen(un)gleichheit"

Think Tank Medien und Informatik (TTIM)
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