"SpriCH" – Wo drückt der Schuh?

Was tun, wenn jedes zweite Kind beim Schuleintritt Schwierigkeiten beim Spracherwerb hat? Antworten gibt es vom Forschungsprojekt "SpriCH". Ein Ergebnis der Studie: Die multiprofessionelle Zusammenarbeit unter den Fachpersonen muss verstärkt werden.
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«SpriCH» – Wo drückt der Schuh? Je nach Region haben bis zu 50 Prozent der Kinder im Schuleintrittsalter Schwierigkeiten beim Erwerb der gesprochenen Sprache, wenn man Spracherwerbsauffälligkeiten, die durch die Umgebung (Herkunft, Familie usw.) bedingt sind, und Sprachentwicklungsstörungen gleichermassen berücksichtigt. Diese Schwierigkeiten korrelieren häufig mit Lern- und Verhaltensproblemen, da es den Kindern schwerfällt, die (Schul-)Sprache zu verarbeiten und am Unterrichtsgeschehen teilzunehmen.

Christoph Till leitet das Forschungsprojekt «Sprachunterstützende Massnahmen an Schweizer Schulen: Studie zur Kooperation multiprofessioneller Teams in integrativen Settings», kurz: "SpriCH». Im Rahmen integrativer Entwicklungen werden Kinder mit Spracherwerbsschwierigkeiten zunehmend in Regelschulklassen unterrichtet, was, wie Studien zeigen, viele soziale Vorteile hat. Auf der anderen Seite ist klar, dass diese Integration auch neue Herausforderungen bedeutet, die vom ganzen Kollegium bewältigt werden müssen. Deswegen befragte das Team von Till Lehrpersonen, Schulische Heilpädagoginnen und Logopäden an Regelschulen darüber

  • ob und wie sie Kinder mit Spracherwerbsauffälligkeiten im Unterricht unterstützen,
  • ob und wie intensiv sie zu diesem Zweck zusammenarbeiten und
  • welche Erfahrungen sie mit dieser Zusammenarbeit gemacht haben.

Druckfrische Ergebnisse in der Lehre
Ebendiese Fragen stammen direkt aus dem Hörsaal: Denn neben seiner Forschungstätigkeit ist Christoph Till auch Dozent für Sprachheilpädagogik am Institut für Schulische Heilpädagogik (IHP) der PHBern. «Diese Doppelrolle bringt viele Vorteile mit sich. Der Kontakt mit den Studierenden im Rahmen von Vorlesungen und Seminaren hat mich auf meine Forschungsidee gebracht», erzählt Till.

Im Gespräch mit den Studierenden, die meist neben dem Studium an einer Schule arbeiten, werde er als Dozent immer wieder mit Fragen konfrontiert, die direkt aus der Schulpraxis stammten. Wenn er merke, dass er die Antwort weder wisse noch in der Fachliteratur fände, werde er als Forscher angespornt, diese Wissens- bzw. Forschungslücke zu füllen. «So entsteht ein Kreislauf: Die Studierenden inspirieren mich zu Forschungsprojekten, deren Ergebnisse wiederum in die Lehre mit den Studierenden einfliessen», erklärt Till.

Viel Wohlwollen, aber schwierige Ausgangslage
Insgesamt beantworteten 150 Lehrpersonen den Fragebogen, dazu 97 Fachpersonen aus der Schulischen Heilpädagogik und 90 aus der Logopädie. Und wie lauteten die Antworten? «Durchwegs alle Erfahrungen mit multiprofessioneller Zusammenarbeit waren positiv geprägt. Die grösste Herausforderung besteht demnach nicht beim Fachpersonal, sondern in den Rahmenbedingungen, die angepasst werden müssten», erklärt Till die Ergebnisse. In der Regel finde die Zusammenarbeit hauptsächlich zwischen Lehrpersonen und den Schulischen Heilpädagoginnen statt. Logopäden seien seltener an enger Zusammenarbeit beteiligt, obwohl auch sie sähen, dass die Zusammenarbeit gut und wichtig sei. Letzten Endes leide die Zusammenarbeit daran, dass Lehrpersonen und Schulische Heilpädagogen bei gleichem Beschäftigungsgrad durchschnittlich an ein bis zwei Schulen arbeiten würden, Logopädinnen jedoch an sechs bis sieben Schulen. Unter diesen Voraussetzungen eine Zusammenarbeit zu etablieren, sei schwieriger, als wenn man in festen Teams arbeitet, wie es häufig bei Lehrpersonen und Schulischen Heilpädagoginnen der Fall sei. Zudem arbeiten Logopäden selten in Klassensettings.

Zwei grössere Baustellen
Laut Till gebe es hauptsächlich zwei Baustellen: Idealerweise müssten pro Team Zeitgefässe entwickelt werden, die regelmässig für die Pflege und Optimierung der Zusammenarbeit genutzt werden könnten und die zwingend entlohnt werden müssten. Die andere Baustelle findet sich in den Ausbildungsgängen: So wird die multiprofessionelle Zusammenarbeit zwar allerorts verlangt, aber selten werden die Fachkräfte entsprechend darauf vorbereitet. Eine Ausnahme stellen hier die Studierenden der Schulischen Heilpädagogik dar, die gleich drei Module zu diesem Thema besuchen. In der Ausbildung zur Logopädin oder zum Logopäden sei die disziplinenübergreifende Zusammenarbeit hingegen noch kaum ein Thema. Der Grundstein für die Zusammenarbeit müsste schon in der Ausbildung gelegt werden, ist Till überzeugt. «Neben diesen zwei Baustellen kommen noch persönliche Ängste oder auch einfach Gewohnheiten ins Spiel, welche die Zusammenarbeit erschweren», ergänzt Till. So hätten sich die verschiedenen Fachpersonen über Jahre hinweg auf bestimmte Aufgabenbereiche spezialisiert, was sich auch darin äussere, dass sie für bestimmte Aufgabenbereiche allein die Verantwortung trugen. Nun gelte es – gegen die eigene Gewohnheit –, diese Verantwortung zu teilen und andere Personen in den eigenen Wirkungsbereich eindringen zu lassen. Dies könne Ängste auslösen. Doch diejenigen Teams, die Till kennt, und die eine enge Zusammenarbeit entwickelt haben, äussern sich dazu alle positiv. Sie profitieren von den Kompetenzen der anderen Fachpersonen und bekommen einen besseren Überblick über die Anforderungen des Schulalltags aus Sicht der Kinder und des Kollegiums. Deshalb rät Till: «Es lohnt sich, mutig zu sein und die Ängste abzuschütteln, denn letztlich profitieren die Kinder und die Fachpersonen davon.»

Konkrete Tipps für den Anfang
Christoph Till hat zwei Handlungsempfehlungen, um die Zusammenarbeit zu verbessern. «Der erste Tipp: in regelmässigen
zeitlichen Abständen im Kollegium Informationen, Material, Ideen und Empfehlungen bezüglich der sprachauffälligen Kinder austauschen.» Den zweiten Tipp bezieht Till auf die Ängste: «In der Fachliteratur wird empfohlen, einmal – und sei es nur für zehn Minuten – die Rollen miteinander zu tauschen. Das heisst, dass beispielsweise die Logopädin Aufgaben im Unterricht übernimmt und der Schulische Heilpädagoge oder die Klassenlehrperson therapeutische Aufgaben.» Dieses kleine Experiment öffne die Augen dafür, was die Kolleginnen und Kollegen leisten und welche Kompetenzen von ihnen verlangt werden, und fördere damit den gegenseitigen Respekt vor der Verantwortung, welche die jeweilige Fachperson trage. «Wenn man anschliessend wieder in die gewohnten Rollen zurückkehrt, wird man die künftige Zusammenarbeit mit einer grösseren Offenheit und einem besseren Verständnis für die anderen Fachpersonen planen können», ist Till überzeugt.

Wie geht es jetzt weiter?
«Als Nächstes werden wir die Daten zum Kanton Bern bereinigen und auswerten. Das wird uns eine Zeit lang beschäftigen. Die Ergebnisse dieser Auswertungen werden in mehreren Publikationen veröffentlicht. Auf Basis der Untersuchungsergebnisse möchte die PHBern ein Zusammenarbeitskonzept für Lehrpersonen, Schulische Heilpädagogen und Logopädinnen entwickeln und auch erproben. «Dies wird wahrscheinlich zunächst einmal in einem kleineren Rahmen geschehen, mit ein bis zwei Projekt- schulen. Bewährt sich das Zusammenarbeitskonzept, kann es auch im grösseren Rahmen umgesetzt und wissenschaftlich evaluiert werden. Diese Vorhaben werden mich wohl die nächsten Jahre beschäftigen», weiss Christoph Till. Sobald aus dem Projekt eine Weiterbildung entsteht, wird die PHBern das Zielpublikum darüber informieren.