Linus ist integriert

Linus ist Schüler in der 5./6. Klasse in Meiringen und hat eine autistische Wahrnehmung. Seine Integration ist das Ergebnis eines erfolgreichen Zusammenspiels zwischen ihm und vielen Mitwirkenden. Ein inklusives Stück mit diversen Rollen.
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In der Hauptrolle: Linus
Sein Lieblingsfach ist Englisch, "weil es soo leicht ist". Deutsch hingegen empfindet er als "nervig", da seine "F" gross- oder kleingeschrieben gleich aussehen. Linus äussert klar seine Vorlieben und Abneigungen. Er weiss, dass er "anders" ist und nimmts mit Humor. Meistens. Lieber als über schulische Vorlieben redet er über seine Lego-Star-Wars-Raumschiffe oder Videogames wie TOTK (Tears of the Kingdom). Gamen ist seine Welt. Auch Schach spielt er gern, aber nur, wenn er gewinnt. Mit links knetet er die Motivations-Mauzi, eine kleine Plastikkatze, die er nach einer Pokémonfigur benannt hat. Mit rechts bedient er das Tablet, wo er eine Rechenaufgabe lösen soll. Rechnen ist ebenfalls leicht. Seit er in der 5./6. Klasse bei Herrn Zahnd ist ("Der ist cool!"), verbringt er viel mehr Zeit im Klassenzimmer als im Einzelunterricht mit Sozialpädagogin Michèle Birrer. Trotzdem ist sie wichtig: "Sie hilft mir, mich zu konzentrieren. Mit ihr ist es chilliger." In der Pause spielt er mit einem seiner besten Freunde, Jarno, das selbst erfundene Spiel "Länder bauen". Dabei ist gerade "SGR – die Schweizer Gaming-Republik" auf dem Papier entstanden. Wenn Linus gross ist, will er Game-Entwickler oder YouTuber werden. Oder etwas anderes.

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Education 02-24: IHP-Autismus-Beratung-Linus-Jarno

Linus erfindet gerne Spiele und probiert sie gleich aus mit Freund Jarno.

Das Elternhaus
Melany Helbling, Linus’ Mutter, redet offen über die besonderen Bedürfnisse ihres elfjährigen Sohnes: "Als wir die Autismus-Diagnose erhielten, war klar, dass wir die Schule und alle Beteiligten informieren wollten, denn es ist einfacher, wenn alle Bescheid wissen." Die ersten Schuljahre waren harzig, gibt sie zu. Überall eckte Linus an, und die Situation war festgefahren. "Ihn als Viertklässler in die 5./6. Klasse zu versetzen, war mutig und ein Risiko. Der Schritt hat sich gelohnt. Und ohne Michèle Birrer wären wir nicht dort, wo wir jetzt sind. Wir hätten nie gedacht, dass er einmal den Unterricht fast durchgängig besuchen kann." Schwierige Situationen entstehen, wenn er verunsichert ist oder etwa eine Ungerechtigkeit entdeckt. "Er hat eine kurze Zündschnur und reklamiert offen, wenn es ihm zu viel wird oder er den Sinn nicht sieht", erzählt Melany Helbling. "Er kann jedoch nur üben, seine Emotionen zu erkennen und sie besser zu regulieren, wenn er in der Klasse ist, nicht im Einzelunterricht oder zu Hause."

Linus braucht Sicherheit und eine vertrauensvolle Bindung. Beides konnten wir gemeinsam in all den Jahren aufbauen.
Michèle Birrer  -  Sozialpädagogin mit heilpädagogischem Auftrag

Die treue Begleiterin
Michèle Birrer, Sozialpädagogin mit heilpädagogischem Auftrag, begleitet Linus seit dem Kindergarten. Sie sind ein gutes Team. "Ich habe gelernt, ihn zu lesen und sein Verhalten zu verstehen. Es ist sehr ermutigend, zu erleben, wie er sich entwickelt und selbstständig wird, weniger gestresst ist und dadurch auch weniger Wutausbrüche hat. Er hat an Weihnachten trotz riesigem Lampenfieber einen Text vor versammeltem Publikum auf der Kirchenkanzel gelesen. Das hat mich sehr berührt." Kontinuität ist die Basis: "Linus braucht Sicherheit und eine vertrauensvolle Bindung. Beides konnten wir gemeinsam in all den Jahren aufbauen." Michèle Birrer steht in regelmässigem Austausch mit Julia Hänni, einer heilpädagogischen Fachberaterin der PHBern. Von ihr kriegt sie neue Impulse. Die Praxisbegleittreffen der PHBern sind ebenso hilfreich wie spannend, weil sie von anderen Fällen erfährt und gleichzeitig von Berufskolleginnen und -kollegen praktische Tipps für den Alltag erhält.

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Education 02-24: IHP-Autismus-Beratung-Michèle-Linus

"Michèle hilft mir, mich zu konzentrieren. Mit ihr ist es chilliger."

Der Klassenlehrer
"Linus kommt am Morgen beim Betreten des Klassenzimmers zu mir, blickt mir in die Augen und begrüsst mich mit Händedruck", so beschreibt Klassenlehrer William Zahnd den alltäglichen Start. Dieses scheinbare Detail zeigt, wie gut Linus mittlerweile integriert ist und sich auch im Sozialverhalten entwickelt hat. Die Voraussetzung für die erfolgreiche Integration ist laut William Zahnd Transparenz, Unterstützung und Offenheit. Für Transparenz und Unterstützung sorgen alle Beteiligten. Und ausserdem brauche es eine offene Haltung: "Ich musste bereit sein für den Extraaufwand und lernen, den Unterricht anders zu strukturieren, klarer zu kommunizieren und gleichzeitig zu improvisieren, wenn etwas nicht nach Plan läuft." Das Resultat: William Zahnd sagt von sich, dass er toleranter und gleichzeitig flexibler geworden ist.

Die Mitschülerinnen und Mitschüler
In den eineinhalb Jahren haben die Mitschülerinnen und Mitschüler gelernt, dass für Linus etwas andere Regeln gelten. Weil er beim Klasseneintritt jünger war als alle, konnten sie es "grosszügig" akzeptieren. So lassen sie sich auch nicht mehr aus der Ruhe bringen, wenn Linus während eines Tests laut schnaubt und schimpft, denn sie begreifen, dass es seine Art ist, mit Stress umzugehen. Sie haben ihn mit seiner Art akzeptiert und helfen, wenn er etwas braucht.

Die Schulleitung
Michael Santschi ist der Drahtzieher im Hintergrund. Der Schulleiter hat Mut für unkonventionelle Lösungen bewiesen. "Das Risiko der Versetzung in die höhere Stufe hat sich ausbezahlt. Aber nur, weil alle am gleichen Strick ziehen und die Konstellation stimmt." Transparente Kommunikation heisst das Zauberwort. Er hat an Elternabenden und im Kollegium offen über Linus’ Situation und den geplanten Versuch informiert und sich dabei auf die Werte der Inklusion gestützt. Die Beratung von PHBern-Expertin Julia Hänni "hat mir geholfen, über den Tellerrand hinauszudenken".

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Motivations-Mauzi, eine Knetfigur, die Linus nach einer Pokémonfigur benannt hat, ist immer im Schulzimmer dabei.

Die PHBern-Beratung
Eine kleine, aber feine Nebenrolle in diesem Erfolgsstück spielt Julia Hänni. Die Heilpädagogin berät Michèle Birrer seit 2019. Nach Hospitationen im Unterricht hat sie bei Supervisionen ihre Beobachtungen und ihr Autismus-spezifisches Wissen geteilt. Aus dem Dialog mit Michèle Birrer ist die Idee des Klassenwechsels entstanden. "Ich bin beeindruckt, wie Linus trotz einer langen Zeit mit stark reduziertem Schulpensum den Anschluss nun so gut finden konnte. Alle haben an Linus’ Entwicklungspotenzial geglaubt."

Das Drehbuch
Die diversen Erzählstränge setzen sich zu einer Erfolgsgeschichte zusammen und zeigen auf, dass Inklusion zeit- und ressourcenintensiv ist. Linus ist ein aufgeweckter Junge, der bewiesen hat, dass er lernfähig ist. Die transparente Haltung der Eltern hilft, Linus’ Verhaltensweisen besser zu verstehen. Michèle Birrer und der Klassenlehrer William Zahnd unterstützen Linus mit Konstanz, Struktur und Wohlwollen. Die Mitschülerinnen und Mitschüler haben ihn so akzeptiert, wie er ist. Und nicht zuletzt hält Schulleiter Michael Santschi im Hintergrund die Fäden in der Hand. Auch mithilfe der Beratung von Julia Hänni. Alles deutet auf ein Happy End in Linus’ Schulkarriere hin.

Bedarf an Beratung in Heilpädagogik, Logopädie oder Psychomotorik? Das Beratungsangebot der PHBern ist so vielfältig wie kompetent.